Dominik Brabant
Pietro Longhi: Genremalerei als sozialanalytische Praktik
Postdoc
Kunstgeschichte
Innerhalb der kunsthistorischen Erforschung des venezianischen settecento führt der Genre- und Porträtmaler Pietro Longhi im Vergleich zu anderen herausragenden Künstlern dieser Epoche immer noch ein Schattendasein. So zieht sich beispielsweise von der Kunstkritik des 18. Jahrhunderts bis in die jüngste Literatur zu diesem Künstler die Klischeevorstellung von Longhi als einem nachsichtigen Bildjournalisten der Gesellschaft seiner Zeit, mit dessen Werken allerdings immerhin die Restbestände einer verspielten Ästhetik des venezianischen Rokoko rigoros getilgt worden seien.
Vor dem Hintergrund dieser lückenhaften Forschungssituation untersuche ich Longhis visuelle Bildpoetik in seinen Genreszenen mit Blick auf die darin entfalteten Blickregime. In diesen, so die Ausgangsüberlegung, zeichnen sich spezifische Modi der Inszenierung von Wahrnehmungsweisen ab, die für das venezianische 18. Jahrhundert insgesamt charakteristisch sind, etwa die Tendenz, soziale Szenarien zu entwerfen, in denen es immer wieder zu Wissensdifferenzen zwischen den unterschiedlichen Protagonisten kommt und durch die die Betrachterin/der Betrachter in ein rezeptionsästhetisches Spiel über die Dialektik von Sehen und (Nicht-)Gesehen-Werden, Zeigen und Verbergen hineingezogen werden. Dabei möchte ich aufzeigen, dass einige der Topoi, mit denen versucht worden ist, Longhis künstlerische Strategien zu erfassen, nicht hin reichen, um die ebenso subtile wie doch auch (entgegen der allgemeinen Einschätzung) in der Konsequenz ihrer Durchführung radikale Bildpoetik dieses herausragenden Genrekünstlers zu erfassen.
Im Zentrum stehen drei Fragekomplexe, nämlich (1.) die Frage, wie sich Longhis Werke motivisch, stilistisch und strukturell zur Geschichte der älteren und zeitgenössischen Genremalerei (1.), aber auch zu den Bildästhetiken der Aufklärungsepoche (2.) verhalten. Ebenso steht eine eingehende Analyse der Frage aus, in welchem Bezug Longhis bühnengleiche Interieurs zur venezianischen Theaterszene seiner Zeit stehen und welche Konsequenzen dies für seine Bildpoetik hat (3.). Diese Kontexte erarbeite ich im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Venedig für das projektierte Kapitel meiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel "Empathie und Distanzierung: Die Genremalerei und das sozialanalytische Sehen, 1560-1800" der Frage nachgeht, wie in dieser Gattung Wahrnehmungsweisen inszeniert wurden, die retrospektiv wie eine künstlerische Vorwegnahme derjenigen Wissensdispositive erscheinen können, die die Disziplin der Soziologie seit dem 19. Jahrhundert mit theoretischen Modellen und Begriffen erarbeitet hat. Es geht also in der Studie um eine Vorgeschichte des sozialanalytischen Sehens in der Gattung der Genremalerei – und zwar aus der Perspektive unserer schon postsozial zu nennenden Lebenswirklichkeit.
Von September 2021 bis Oktober 2021