Fabien Vitali
Paradoxie im Kontext des venezianischen Humanismus:
Venedig als Ort der Übertragung und Verhandlung von Welt- und Wertvorstellungen (Habilitationsprojekt)
Italienische/Frz. Literaturwissenschaft
Die Sonderstellung der „Serenissima“ im Kontext der Renaissance liegt nicht allein in ihrer Vorreiterposition innerhalb der «civiltà editoriale» (Antonio Corsaro), also in den materiellen Vorbedingungen für die Verbreitung geistiger Kultur begründet. Ausschlaggebend ist, wie Vittore Branca in einem Abriss zur venezianischen Frühneuzeit betont, auch ein eigener geistesgeschichtlicher Hintergrund, der die Auseinandersetzung mit den bonae litterae stets stärker zu Gunsten der moralischen Dimension des Logos hat ausfallen lassen («Le linee di forza dell’umanesimo veneziano [sta ne] la agostiniana difesa dell’eloquenza e della poesia non come puri ornamenti ma come forma adatta a spronare all’azione morale»). Es ist nicht zuletzt diese Ausgangslage, welche Venedig mitunter auch zu einer «porta della Riforma» (Massimo Firpo), einem fruchtbaren Ort für reformatorisches Ideengut sowie für die Entwicklung literarischer Formen, die zu ihrer Vermittlung taugten, machten. Im Zentrum meines Forschungsprojekts steht eine dieser literarischen Formen: Das Paradoxon. In den vorangehenden Jahrhunderten vor allem bekannt als Spielform des Komischen (unernste Lob-/ Tadelrede), entwickelt sich das Paradoxon im Lauf des 16. Jahrhunderts, auch im Zug der Wiederentdeckung der antiken Sophistik, unter neuen Vorzeichen zu einem rhetorischen Schlüsselphänomen, das geradezu «endemische Verbreitung» findet (Rosalie Colie). Die logisch-antilogische Rede erweist sich nunmehr nicht mehr nur als lusus, sondern ist Ausdruck realer geistiger Unruhe und Mittel zur In-Frage-Stellung, bzw. Veränderung bestehender Werteverhältnisse (doxa). Mit seinem Moriae Encomium (1511) liefert Erasmus für diese Variante der paradoxalen Rede ein wirkungsmächtiges Beispiel, das, unter dem Eindruck des späteren Ciceronianus (1527), auch in Italien, und gerade in Venedig in den Kreisen der sogenannten poligrafi (Celio Secondo Curione, Ortensio Lando, Niccolò Franco u. a.) zum Ausgangspunkt einer lebhaften Produktion „ernsthafter“ Paradoxa – als potentiell nikodemitischer Praxis – wird. Das Forschungsprojekt widmet sich somit der Frage nach der Bedeutung Venedigs im Hinblick auf die Entwicklung literarischer Paradoxie als einem Faktor geistiger Erneuerung – im Sinn der Forderung Carlo Dionisottis, Literatur- und Geistesgeschichte immer auch in Funktion lokaler Traditionen zu denken.
Von März 2019 bis August 2019
Venedig im 'goldenen Zeitalter der italienischen Judaistik'. Jüdisch- humanistische Beziehungen in der Literatur der venezianischen Frühneuzeit
Post-Doc
Italienische/Frz. Literaturwissenschaft
Von einer »sapientae font[e] […], et scientiae flumen« sprach Pico della Mirandola und setzte damit den Grundstein für die fortan verbreitete Überzeugung, wonach die hebräischen Geheimlehren eine allumfassende-»Urtradition aus dem frühesten Stand der Menschheit« (Gershom Scholem), ja die jüdische Text- und Auslegetradition ein für das philologische Verständnis der biblischen Tradition unverzichtbaren Schatz darstelle. Erscheint nun 16. Jahrhundert unter diesen Bedingungen als »stagione aurea per il giudaismo italiano« (Giulio Busi), so drängt sich aufgrund historisch spezifischer Voraussetzungen – auch in Folge der Gherush Sefarad – insbesondere Venedig auf als Ort der Wechselbeziehungen zwischen christlich-humanistischen und jüdischen Gelehrten. Das flagranteste Indiz hierfür ist die im Bereich der Judaistik früh aktive, venezianische Druckindustrie. Nicht nur das im Klima florierender »scambi culturali« (Donatella Calabi) verbreitete Interesse der Humanisten an der hebräischen Sprache war hierfür ausschlaggebend. Jüdische Gelehrte waren, trotz offizieller Einschränkungen, direkt in die Entwicklung des Buchdrucks involviert, widmeten sich initiativ der »redazione di testi da stampare e alla correzione delle bozze« (Roberto Bonfils) – nicht zuletzt, um den Diasporajuden in- und außerhalb Italiens textbasierte Grundlagen für ihre bedrohte »kollektive Identität« (Giulio Busi) verfügbar zu machen. Die Bedeutung Venedigs, ferner Mantovas, als Orte der Überlieferung zentraler Texte aus der jüdischen Tradition (Bibel, Talmud, kabbalistische Texte) ist weitgehend bekannt. Weit weniger erforscht bleibt indes die Frage nach möglichen Implikationen der Präsenz jüdischer Gelehrter in literaturhistorische Entwicklungen Italiens, für die Venedig im frühen 16. Jahrhundert ein Hauptschauplatz war. Das Forschungsprojekt nimmt somit die in hebräischer Sprache aktiven Drucker, von Manuzio, Bomberg, Giustinian bis zu Alvise Bragadin noch einmal in den Blick, um die entsprechenden Netzwerke heuristisch, als Ausgangspunkte und Orte der Entwicklung eines jüdisch-humanistischen Dialogs, vor allem in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zu untersuchen. Das Interesse gilt dabei auch der Frage nach möglichen Rückwirkungen dieses Dialogs auf eine damals sich – im Zeichen der frühneuzeit-typischen Pluralisierungsprozesse – agonal sich strukturierende italienische Literatur. So bietet es sich an, Spuren entsprechender Wechselbeziehungen im Bereich aufstrebender Autoren zu suchen, die sich mittels Adaption neuer Inhalte und Formen einen Platz im Feld der Literatur zu schaffen erhofften, neu verfügbare Ressourcen somit strategisch, in Funktion einer neuen, oder anders klassischen Ordnung zur Geltung zu bringen.
Von April 2024 bis September 2024