Nina Niedermeier
Das Buch Esther im frühneuzeitlichen Venedig. Verflechtungen eines jüdischen und christlichen Bildthemas zwischen Innovation und Traditionsbildung
Post-doc/Fritz Thyssen Stiftung
Kunstgeschichte
Als über die Religionen hinweg rezipierter, in der christlichen sowie in der jüdischen Kunst dargestellter Bildgegenstand unterlag das biblische Buch Esther in der Frühen Neuzeit einer Reihe medialer und interpretativer Innovationen, die sich ab dem 17. Jahrhundert zu konstanten Bildtraditionen stabilisierten. Diese entwickelten sich im multireligiösen Zusammenhang der Republik Venedigs unter dem Einfluss zahlreicher Berührungspunkte der jüdischen und der christlichen Rezeption des Esther-Stoffes, welche durch Überschneidungen exegetischer Traditionen, zirkulierende Bilder und die wechselseitige Wahrnehmung von Literatur, Theater und religiösem Brauchtum zustande kamen.
Ungeachtet der interreligiös verflochtenen Rezeption des Buches Esther war die theologische Einschätzung des biblischen Textes in beiden Religionen höchst unterschiedlich. In der jüdischen Tradition galt das Buch Esther als liturgischer Text, der während des Purimfests rituell verlesen wurde und als Diaspora-Erzählung gegenwartsbezogene Bedeutung erlangte: Die aus dem iberischen Raum vertriebenen, zwangskonvertierten Juden, welche ab 1589 als Teil der Natione Ponentina ein Aufenthaltsrecht in Venedig erhielten, fanden in der Figur der Esther ein messianisch auslegbares Lebensmodell. In der christlichen Kunst Venedigs stellten die Hinwendung zu Esther und die mit ihr verbundenen typologisch-mariologischen Auslegungen vor dem Hintergrund der im Jahre 1542 in Venedig eingeführten Inquisition eine Abgrenzungsmöglichkeit innerhalb der Konfessionsbildung dar, welche durch den Beschluss des Konzils von Trient im April 1546, das bislang als apokryph geltende Buch samt den griechischen Zusätzen der Septuaginta in den biblischen Kanon aufzunehmen, bestärkt wurde.
Trotz Kanonisierung und gewachsener kultureller Bedeutung existierten in beiden Religionen nachhaltige theologische Vorbehalte gegenüber der biblischen Erzählung, die auf einen gemeinsamen Grund, die Nicht-Erwähnung des Namens Gottes, zurückgingen. Der theologisch ambivalente Charakter des Buches Esther hatte schließlich verschiedene Auswirkungen auf die sich ab dem 16. Jahrhundert entwickelnden frühneuzeitlichen Bildtraditionen: Gemeinsam mit dem allgemein erwachten Interesse an Bildthemen des Alten Testamentes eröffnete er in der christlichen Kunst Möglichkeiten, den Stoff vom biblischen Kontext zu lösen, seine Bezüge auf profane Deutungsinhalte auszuweiten und den traditionellen mariologischen und allegorischen Lesarten neu in den Vordergrund drängende Bildsujets, wie die ab dem 17. Jahrhundert immer stärker erotisierte „Ohnmacht Esthers“, an die Seite zu stellen. In der jüdischen Kunst erlaubte das Fehlen des Gottesnamens eine großzügige Haltung gegenüber Bildern, so dass ab dem späten 16. Jahrhundert dekorierte und illustrierte Esther-Rollen, welche für den privaten Gebrauch geschaffen wurden, von den rabbinischen Autoritäten gebilligt wurden. Als ein weiteres Abrücken von religionsgesetzlichen Regulierungen kann auch die mediale Neuerung der druckgraphisch dekorierten Esther-Rolle verstanden werden, welche Kollaborationen zwischen jüdischen und christlichen Künstlern mit sich brachte. Das Projekt möchte Verflechtungen der Bildtraditionen beider Religionen darlegen, darüberhinaus die in der jüdischen und christlichen Kunst geteilten Aneignungswege des Esther-Stoffes sowie die sich aus dem jeweiligen religiös-kulturellen Kontext ergebenden Auswirkungen auf künstlerische Entwicklungen.
Von Januar 2023 bis Dezember 2023