Ralf Lützelschwab
Scomparso? Spuren karmelitischer Predigttätigkeit in Venedig
Postdoc
Geschichte (Mittelalter)
Predigten sind die mit Abstand größte Quellengruppe des Mittelalters – ebenso umfangreich wie in ihrer Aussagekraft unterschätzt. Forschungen zur Predigtkultur der Bettelorden haben sich bisher vornehmlich auf die Großorden der Franziskaner und Dominikaner konzentriert. Außen vor blieben die Karmeliter. Bis vor wenigen Jahrzehnten war überhaupt nur eine einzige Karmeliterpredigt aus dem Mittelalter bekannt. Dass dies die Überlieferungswirklichkeit nicht korrekt widerspiegeln kann, dürfte angesichts eines Ordens, dessen Daseinszweck im Predigen bestand, offensichtlich sein. Inzwischen haben sich weitere Predigten gefunden und was sie auszeichnet, ist ihr starker Bezug zur zeitgenössischen Lebenswirklichkeit. Im europäischen Predigtkonzert waren die Karmeliter die Zu-Spät-Gekommenen. Aus dem Heiligen Land vertrieben, mussten sie sich mit Hilfe des Papsttums in Europa zunächst eine neue Existenz schaffen. Aus Eremiten wurden Bettelmönche. Im Medium der Predigt reflektierten Karmeliter ihre eigene Migrationsgeschichte, die sie seit den 1230er Jahren vom Heiligen Land nach Europa geführt hatte und beleuchteten die Schwierigkeiten, die mit dem Prozess der Integration in bestehende institutionelle Strukturen verbunden waren. Angesprochen wurde so immer wieder auch die Suche nach der eigenen Identität, in der eremitische Ideale des Ostens mit mendikantischen Vorgaben des Westens in Übereinstimmung gebracht werden mussten.
In Venedig waren die Karmeliter seit 1285 präsent. Sie verfügten mit S. Maria dei Carmini in Dorsoduro über einen repräsentativen Konvent. Dort blieben sie bis 1810, als im Zuge der napoleonischen Repressionen ihre Existenz zu einem erzwungenen Ende kam.
Erforscht werden soll zum einen das Schicksal der Klosterbibliothek, deren wertvollste Stücke in ein zentrales Buchdepot nach Padua verbracht und von dort aus weiter verteilt wurden. Identifiziert werden sollen zum anderen aber auch bisher unbekannte Predigthandschriften der venezianischen Karmeliter.
Predigtforschung dient aber nicht nur allein der Identifizierung bisher unbekannter Texte, deren Edition und somit der Erweiterung der Quellenbasis, sondern strahlt auch auf andere Bereiche aus: Sermones öffnen den Blick auf unterschiedliche, dem jeweiligen (pastoralen) Kontext geschuldete Wissenskulturen. Verarbeitet wird in den Predigten nämlich nicht nur ein orthodoxes Ideal, sondern die heterodoxe Realität in der spätmittelalterlichen Stadt. Insofern sind Sermones stets auch als wichtiger Beitrag zur Sozial-, Wirtschafts- und Institutionengeschichte des Mittelalters zu verstehen.
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