Deutsches Studienzentrum in Venedig

Sara Elisa Stangalino

Sara Elisa Stangalino

Tacitus als Verhaltenskompass bei Hofe: Nicolò Minatos Elio-Seiano-Libretti (1667)
Postdoc

Musikwissenschaft

Nicolò Minato ist in der Opernforschung als außerordentlich produktiver Autor von Libretti für Opern und Oratorien bekannt. Seine Schaffenszeit umfasst den Zeitraum zwischen 1650 und 1668, in dem er in Venedig tätig war und mit Komponisten wie Francesco Cavalli, Antonio Sartorio und Giovanni Legrenzi zusammenarbeitete, sowie den Zeitraum zwischen 1669 und 1698, in dem er das Amt des Hofpoeten am kaiserlichen Hof in Wien bekleidete. Bevor er sich jedoch dem Musiktheater zuwandte, veröffentlichte er 1645 in Venedig ein Traktat unter dem Titel Eruditioni per li cortigani („Weisheiten für Höflinge“), eine gelehrte Abhandlung über höfisches Verhalten, die in vierzig Kapiteln einige der beliebtesten Probleme der zeitgenössischen Diskussion zum Thema behandelt. Dabei stützt er sich auf Episoden aus dem Werk von Schriftstellern wie Seneca, Sueton, Plutarch, Appian und vor allem den Annalen des Tacitus. Die Abhandlung ist nicht nur wegen ihrer einzigartigen Tradition wichtig, die sie in eine europäische Perspektive stellt (Minato basiert seine Erörterung unter anderem auf Werken von Eustache de Refuge und Girolamo Canini D’Anghiari, rezipiert über seine Lektüre von Eusebius Meisner), sondern auch, weil sie einer in der Literatur des 17. Jahrhunderts häufig besprochenen Figur großen Platz einräumt, Lucius Aelius Seianus. Wie Tacitus in den Büchern IV und V der Annalen beschreibt, wurde Aelius Seianus von Kaiser Tiberius in die höchsten Ämter des Reiches erhoben. Die Eruditioni widmen Seianus, der durch übertriebenen Ehrgeiz beim Kaiser, der ihn begünstigt hatte, in Ungnade fiel, zahlreiche Passagen und ein ganzes Kapitel. Zweifellos bediente sich Minato bei den Eruditioni, als er 1667 für das Teatro di San Salvatore in Venedig ein Zwillingsdrama über das Sujet schuf, also einen für zwei Abende bestimmten dramatischen Zweiteiler, mit den Titeln La prosperità di Elio Seiano („Der Aufstieg des Aelius Seianus“) und La caduta di Elio Seiano („Der Fall des Aelius Seianus“). Der Komponist, mit dem Minato hierbei zusammenarbeitete, der Hannoversche Kapellmeister Antonio Sartorio, nutzte die Oper in der deutlichen Absicht, das Haus Hannover zu verherrlichen, was schon an der Widmung an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg und seine Schwester Sophie Amalia von Dänemark zu erkennen ist.

Erklärte Grundlage des Librettos ist Tacitus, also die höchste Autorität auf dem Gebiet der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, dessen Schriften von einer großen Zahl von Intellektuellen und Gelehrten übersetzt und kommentiert wurde. Sie bildeten gleichsam das tägliche Brot der venezianischen Akademien, der „Incogniti“, „Discordanti“ und „Imperfetti“, deren letzterer Minato selbst angehörte. In der Geschichte des kaiserlichen Roms, wie sie die Annalen überliefern, können wir eine deutliche Allegorie der Korruption an Fürstenhöfen lesen (man denke nur an die Krönung der Poppea des „Incognito“-Mitglieds Busenello); und wenn es stimmt, dass der kaiserliche Palast das Beispiel par excellence innerer Rivalitäten bildete, erhält das Studium der Taten der Großen – selbst der unsäglichsten unter ihnen – eine bestimmte, machiavellistisch-didaktische Absicht: Das Alte wird nicht nur als negatives und kontrastierendes Beispiel angesehen, sondern in erster Linie als analoger Vergleich zur Beschreibung der zeitgenössischen Realität. Tacitus’ Lehre wird so gleichsam zu einem Verhaltenskompass, einem Führer zum Leben und Überleben bei Hofe.

Die Popularität der Prosperità di Elio Seiano, eines der am meisten aufgeführten Werke Sartorios, wird durch die zahlreichen Wiederaufnahmen dokumentiert. Minatos Zweiteiler liefert ein komplexes und sehr interessantes Zeugnis für die Untersuchung der Rezeption tazitistischer Materie im Kontext des Operntheaters, dessen Motive mit freizügigen Inspirationen verflochten sind, vor allem mit der in der libertinen Tradition stehenden literarischen Produktion der „Incogniti“-Mitglieder). Das eingehende Studium der beiden Stücke um Aelius Seianus und die von mir vorgeschlagene kritische Edition der jeweiligen dramatischen Texte würde aus interdisziplinärer Perspektive (das Thema betrifft gleichermaßen Geschichte, Literaturwissenschaft, Musik- und Theaterwissenschaft sowie Kunstwissenschaft) bemerkenswerte Aspekte ans Licht bringen zur Bedeutung der Botschaft des römischen Historikers in den goldenen Jahren der Popularisierung der Oper in Venedig und darüber hinaus: also Erkenntnisse zur Verbreitung der italienischen Oper an europäischen Höfen.

Das Ziel des Projekts ist die Vorbereitung der kritischen Ausgabe der beiden Libretti zu Elio Seiano, begleitet von einer umfänglichen Einführung, die darauf abzielt, das Werk zu kontextualisieren und gleichzeitig das Studium zeitgenössischer Abhandlungen und freigeistiger Literatur (alias „Incogniti“-Literatur) zu würdigen. In der Einführung werden der generative Kontext der „Zwillingswerke“, die historisch-literarischen Vorläufer, die Struktur der Stücke und die verwendeten dramaturgischen Konventionen erläutert.

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